Dies ist Teil 2 eines zweiteiligen Artikels. Um Teil 1 zu lesen, klick bitte hier.
Das Schreiben der Postkarte gleicht einer kleinen Zeremonie. Da ist zunächst der intime Moment, in dem Du mit einem Stift das Textfeld ausfüllst: im Lichtkegel der Stehlampe an Deinem Schreibtisch oder in der Morgensonne am Küchentisch oder in der Arbeitspause auf Deinen Knien. Im Gegensatz zu der SMS, die Du nebenbei abtippst, während Du vielleicht gerade mit jemand anderem zu Mittag isst oder auf die Straßenbahn wartest, konzentrierst Du Dich wirklich auf die Karte.
Dann kommt das befriedigende Aufkleben der Briefmarke, die Deine Nachricht später durch den Poststempel ganz offiziell an eine bestimmte Zeit und einen Ort binden wird. Deine Worte erhalten sozusagen ein kleines Gütesiegel, das ihre Qualität verbürgt: eine Qualität, mit der die Leserin rechnen darf, weil Du ihr extra eine handschriftliche Botschaft schickst.
Abschließend erfolgt das Ritual des Einwerfens in einen Postkasten. Du streckst – nicht unähnlich einer Wahl - Deinen Arm aus und lässt die Karte mit einem metallischen Klimpern in den Schlitz fallen. Dieselbe Bewegung wird von der Empfängerin gespiegelt: Sie öffnet mit einem Klappern ihren persönlichen Briefkasten, streckt ihren Arm hinein und zieht Deine Karte hinaus.
Marshall McLuhan liebte es, von Technologien als Erweiterungen des menschlichen Körpers und seiner Sinne zu sprechen: Ein Telefon zum Beispiel verstärkt die Reichweite Deiner Stimme oder die Fähigkeit Deiner Ohren, entfernte Geräusche zu hören. Essbesteck wird zur Verlängerung Deiner Arme. Wenn wir uns daran orientieren, könnten wir den soeben beschriebenen Transfer der Postkarte von Senderin zu Empfängerin fast als eine Art Händeschütteln beschreiben.
Aber eigentlich verpassen sich die Fingerspitzen der beiden involvierten Menschen ja ein klein wenig, also wäre vielleicht der Vergleich mit einem berühmten Deckenfresko Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, namens ‚Die Erschaffung Adams’, angebrachter: Zwei Menschen strecken ihre Arme nach einander aus, verfehlen einander aber um Haaresbreite (oder auch um Postkartenbreite!). Diese Distanz überbrückt die Postkarte: Die Berührung der Finger geschieht vermittelt durch das zarte Papier. Beide Personen streichen ihre Fingerkuppen über das handbeschriebene Papier und ihr Tastsinn ist befriedigt, denn die Postkarte bietet ihm das Gefühl, nach dem er sich sehnt.
Hier ist eine kurze Bildgeschichte zur Veranschaulichung dieser Idee:
Klingt doch romantisch, oder etwa nicht? Aber ich habe Dir ja auch ein pragmatisches Argument versprochen, also hier ist es:
Alles, was ich soeben beschrieben habe, weiß die Empfängerin. Sie weiß, dass Du für sie eine besondere Handlung ausgeführt hast. Ebenso weiß sie, dass Du Dir die Zeit genommen hast, eine Postkarte zu verfassen und Deinen Arm zum Einwerfen auszustrecken. Deine kleine Zeremonie des Kartenschreibens ist eine Geste, die im Medium enthalten ist. Du hast ein ‚Artefakt’ erschaffen. Ein Geschenk, in dem all Deine guten Intentionen eindeutig enthalten sind und der Leserin vermittelt werden: The medium is the message.
Soziale Netzwerke und Chatprogramme versuchen gelegentlich Gesten aus dem physischen Leben zu imitieren. Begriffe wie ‚Poke’ (Anstupsen) oder ‚Nudge’ (Schubsen) haben Einzug in den elektronischen Raum gehalten. Wie Du siehst, kann die Postkarte über solch paradoxe Versuche, Körpersprache in elektronischer Form zu rekonstruieren, nur schmunzeln. Sie bespielt nämlich tatsächlich eine Fülle von Sinneseindrücken und körperlichen Bewegungen - beim Kratzen des Stiftes bei der Handschrift, dem Streichen der Fingerkuppen übers Papier oder dem freundschaftlichen Ausstrecken des Armes beim Einwurf in den Postkasten.
Und noch einen Vorsprung hat die Postkarte:
Wenn Du Dich bereits eine Weile im Internet bewegt hast, wirst Du festgestellt haben, dass es voller Kätzchen ist, mit denen Du um die Aufmerksamkeit Deiner Leserinnen konkurrieren musst wie ältere Geschwister um die Liebe ihrer Eltern, wenn ein Neugeborenes im Haus ist.
Die durchschnittliche Leserin Deiner elektronischen Nachricht widmet ihr etwa jene 5 Sekunden, die es dauert, bis YouTube das Überspringen der anfänglichen Werbung in dem Katzenvideo erlaubt, das sie eigentlich gerade anschauen will. Und wenn sie damit fertig ist, liest sie die ersten 10 Zeilen eines Blogs über Postkarten, bis wiederum eine andere Versuchung ihre flatterhafte Aufmerksamkeit ablenkt – aber immerhin liest sie gerade lange genug, um Deinen Zweizeiler im sozialen Netzwerk mit neuen Worten zu überdecken und Deine Message zu vergessen.
Marshall McLuhan hat schon Jahrzehnte vor dem Aufkommen des Internets eine Beobachtung gemacht, die für das Informationszeitalter ganz wesentlich ist: In der gedruckten Schrift, z.B. im Buch, nehmen wir das Wissen nacheinander, Seite für Seite, auf. In der elektronischen Datenübertragung hingegen passiert alles gleichzeitig.
Wenn man sich innerhalb ein und desselben elektronischen Mediums bewegt (also im Internet oder auf dem Bildschirm eines Smartphones), ist der Wettstreit um Aufmerksamkeit angesichts der vielen Ablenkungen sehr, sehr hart. Die Postkarte ist da geradezu ein Geniestreich: Als physischer Gegenstand sticht sie aus der Einförmigkeit der digitalen Kommunikation hervor. Sie ist ein separates Medium ohne unmittelbare Konkurrenz.
Die Empfängerin nimmt die Karte aktiv aus ihrem Briefkasten, in einer Weise, wie es das Öffnen einer E-Mail durch den fünftausendsten Mausklick an diesem Tag niemals sein wird. Die Postkarte erhält die volle Aufmerksamkeit ihrer Adressatin, weil sie alleine und als etwas Besonderes dasteht.
Das ist auch einer der Gründe, warum eine elektronische Grußkarte niemals den Effekt einer realen Kunstpostkarte erzielen kann – sie hebt sich nicht gegen die endlos vielen anderen Bilder und Texte ab, mit denen sie sich das Medium der digitalen Datenübertragung teilen muss.
Eine stilvolle Postkarte hingegen kombiniert die Vorzüge von SMS und Brief. Sie kann Romantikerinnen wie Pragmatikerinnen gleichermaßen entzücken.
Ich schließe daher mit einer letzten Lobpreisung: Die Postkarte profitiert vom Überraschungseffekt. Sie ist eine Widmung an eine geschätzte Person, die in einem Behältnis hinterlegt wird, zu dem nur diese einen Schlüssel besitzt. Die Karte ist ein papierener Paukenschlag im persönlichen Postkasten. Auf einer Seite von einem hinreißenden Bild untermalt, erblüht Deine einzigartige Handschrift wie ein Miniaturfeuerwerk – sie funkelt und verzaubert mit einem Charme, den die monotone Typographie elektronischer Medien nicht kennt.
Die Postkarte sticht hervor als Teil einer kleine Zeremonie, die belegt: The medium is the message.
- Finis -
PS: Laut der englischen Wikipedia gibt es ein ‚Ailuromancy’ (Deutsch: Ailuromantie) genanntes Verfahren, mit dem sich basierend auf den Bewegungen und Sprüngen von Katzen zukünftige Ereignisse vorhersagen lassen. Nachdem ich alle 5 Zeilen des entsprechenden Eintrags studiert habe, würde ich mich als ‚Eingeweihten’ bezeichnen. Ich wage also, ausgehend von den zwei Katzenbildern oben, eine Prophezeiung: Im japanischen Holzdruck ruht die Schneekatze starr und imposant auf ihrem Platz. Sie symbolisiert einen großen Briefkasten, zu dem es die Leute hinzieht, weil sie Postkarten aufgeben möchten. Im zweiten Bild wuseln die quirligen Kätzchen auf dem ganzen Baum herum – sie stehen für die Postkarten, die an Empfängerinnen auf der ganzen Welt verteilt werden. Meine Weissagung ist also: Einige von Euch, liebe Leserinnen, werden bald eine Postkarte verschicken. Könnte das zutreffen?
David Weger (Writer for Istillwritecards)
March 02, 2017
PPS: Wenn Du meine Interpretation des Gemäldes ‚Die Erschaffung Adams’ für etwas weit hergeholt hältst, sieh dir mal den englischen Wikipedia-Artikel an, dort wird geschildert, welche Körperteile Neurologen und auch Gynäkologen in dem roten Tuch hinter Gott ausgemacht haben. (Ich werde hier keine Details nennen, aber meine eigene Analyse wirkt im Vergleich recht zahm.)
PPPS: Lass es auf keinen Fall zu, dass sich irgendwelche Katzen auf Deine Postkarte setzen, oder selbst diese Papierbotschaften werden Dich nicht mehr vor der Ablenkung durch die Fellknäuel bewahren können. (Ich kenne eine, die sich mit Vorliebe auf auseinandergefaltete Zeitungen legt, daher fürchte ich das Schlimmste.)
Und sei hiermit gewarnt, dass eine Google-Bildersuche nach weiteren Katzenmotiven von Utagawa Kuniyoshi ein, zwei Holzschnitte finden könnte, bei denen auch Deine Tapferkeit beim In-die-Augen-Schauen unter Umständen nicht verhindern wird, dass Du danach einen Albtraum hast.